Das Merotop ist ein „Teil eines Ortes“ und bezeichnet in der Ökologie die kleinste Einheit eines Biotopes – beispielsweise ein Baumstamm –, die von einem Organismus bewohnt werden kann. Solche reduzierten Lebensräume gibt es auch in künstlicher Form als Terrarien oder Palmenhäuser mit gepflegten Pflanzen und Tieren. Es sind Naturnachahmungen und Aneignungen durch den Menschen. In der Geschichte der Poetik und der Kunst wird das Prinzip der Nachahmung/imitatio der Natur als Mimesis bezeichnet und beschreibt die ästhetische Interpretation beziehungsweise die Darstellung von Wirklichkeit. Die mimetische Fähigkeit ‚sich etwas ähnlich zu machen‘ muss jedoch auch im Kontext von gesellschaftlichem Leben gedacht werden, da sie nahezu jedes menschliche Handeln, Denken und Vorstellen betrifft.
Johanna Binder reflektiert in ihrer multimedialen Installation MEROTOPIA das Verhältnis des Menschen zur Natur und den Blick auf die Kunst. Sie eignet sich dafür den Galerieraum an und inszeniert ihn als eine Art Terrarium, einen kuratierten Lebensraum für unbekannte Bewohner_innen. Von außen sehen die Passant_innen durch die Glasscheiben ein Szenario, das ihnen als Ort für Kunst vielleicht bekannt erscheint und dennoch fremd ist. Beim Durchwandern des Inneren ändert sich die Perspektive und die Besucher_innen werden selbst zu Beobachteten in einem Vivarium. Der Blick von außen ist eine wichtige Koordinate im Werk der Künstlerin. Binder interessiert daran das scheinbar unlösliche Paradox, etwas zu erforschen und hierfür die eigene Vorprägung auszuklammern. Die Gefahr besteht darin, dem Anderen das Eigene überzustülpen – wie das Terrarium, das nach einer Vorstellung von Natürlichkeit geschaffen wird. Wenn bestehende Hierarchien, Strukturen und Systeme unbekannt sind, fokussiert sich der Blick auf Äußerlichkeiten, Oberflächen und Details. Diese dekonstruierende und isolierende Vorgehensweise transferiert Binder in ihre Malereien und Grafiken, indem sie einzelne Details und Formen herausgreift, Raster und Linien zerfallen lässt, Leinwände durchlöchert, Papiere durchsticht und Zahlenrhythmen aufbricht. Haben organische Geschwülste eine innere Ordnung und Hierarchie, die wir mit unseren Messungsinstrumenten nur nicht erfassen können? Mit welchen Kategorien kann man künstliche Wirklichkeiten erschaffen, die ‚lebensfähig‘ sind? Diese Auslotungen äußern sich in Binders prozessorientierter Arbeitsweise ebenso wie die Abwägungen von Logik und Intuition, das Nachdenken über eine künstliche und eine natürliche Ordnung der Dinge.
Wichtiger Ausgangspunkt zur Konzeption von MEROTOPIA war für die Künstlerin der Umgang des Menschen mit der Natur als Metapher für die Beziehung zu anderen Gesellschaftsformen und Kulturen. Die Vorstellungen der westlichen Welt von Natur und Landschaft sind geprägt durch die Romantik und die Utopie der Vereinigung von Mensch und Natur. Sie wird hierbei als schöner, idyllischer oder dramatisch entfesselter Wunschraum dargestellt, einen Rückzugsort von der Gesellschaft. Mit MEROTOPIA stellt Binder diesem Verständnis ein realistischeres entgegen, das die Bemächtigung und Beherrschung anderer Lebensräume verhandelt. Sie fordert uns auf genau hinzusehen, die Perspektive zu ändern und die eigene Welt mit den Augen einer fremden Welt zu sehen.
Text: Marijana Schneider