
RUTHMOS
Ineinander verschlungene Materie und sich verschlingende Lichter, die immer neue Konturen und Farbfelder herausbilden: In nach oben strebenden Linien und sich nach innen faltenden Schichten zeichnet sich eine Metamorphose ab. Denn die Formen der Kunstwerke verändern sich im Verlauf der Zeit. Sie werden durchlässig für ihre Umgebung und bilden Luftblasen, beginnen in der Dämmerung zu schimmern, verflüssigen oder verstetigen sich je nach der Bewegung ihrer grundlegendsten Bestandteile.
In diesem «Ruthmos», einer bewegten und bewegenden Form, reflektieren sich die Arbeiten von Julia Haugeneder und Raphaela Riepl gegenseitig. Die beiden Künstlerinnen wählten den Titel der Ausstellung inspiriert durch die Vorlesungen Über die Malerei von Gilles Deleuze, die er 1981 an der Pariser Universität 8 hielt. Rekurrierend auf die antike Bildhauerei verweist der Philosoph darin auf die zwei Begriffe für Form im Griechischen: Schema und Ruthmos. Während das Schema ein „ für allemal in einer Materie verwirklichte[s] Wesen” darstellt, ist der Ruthmos eine Erscheinungsform, die „ sich fortwährend aktualisiert”.¹
Diese Veränderung wird in den Kunstwerken in der Ausstellung Ruthmos ebenso im Material wie in der Produktionsästhetik immanent, in der die Formung der Materialien als Handlung auftritt. Den Lichtinstallationen von Raphaela Riepl liegt ein Biegen, Zusammenfügen und Befüllen zugrunde. Hingegen manifestiert sich in Julia Haugeneders Skulpturen aus pigmentiertem Buchbinderleim ein Gießen, Falten und Abdrücken. Daraus ergibt sich ein abstraktes, sinnliches Zusammenspiel im Ausstellungsraum, das von denkbar unterschiedlichen, künstlerischen Beweggründen ausgeht.
Ihren Anfangspunkt nimmt die künstlerische Arbeit von Julia Haugender in der Fläche, die zunächst durch den Ausguss eines Leim-Pigment-Gemisches existiert und nach verschiedenen Umformungsprozessen der Darstellung philosophischer oder lebensweltlicher Themen dient. Für diesen Werkkomplex war insbesondere die Dualität der Eule maßgebend, die je nach kulturellem Kontext entweder als Symbol für Weisheit oder als Unheilsbringer gilt. Ihr Abbild findet sich vielgestaltig in Form von Linoldrucken und Abgüssen in der Ausstellung wieder. Mal blicken sie einem forsch entgegen, mal sind sie schützend von Materialschichten umgeben, was sich als kritischer Kommentar auf die stetigen kulturellen Einhegungen lesen lässt.
Raphaela Riepls Werke entstehen aus der Linie, die sich in Kreidezeichnungen auf schwarzem oder hell schimmerndem Untergrund ebenso wie in den Gitterstrukturen der delikaten Leuchtstoffarbeiten formieren. Indem die aufwendig mit der Hand hergestellten Leuchtstoffröhren mit Milchglas oder perforierten Metallen kombiniert werden, wird das Licht gestreut oder reflektiert. In der Sichtbarmachung von Stofflosigkeit offenbart sich der Versuch eine Bewegung einzufangen, die dem menschlichen Auge aufgrund der Lichtgeschwindigkeit eigentlich verborgen bleibt.
Es braucht Zeit sich auf die intuitiven Linien und Flächen einzulassen. Und mit der Zeit entfaltet deren Wechselspiel von Licht und Schatten seine ganze Sinnlichkeit, die vor allem eines ist: Bewegend.
¹ Gilles Deleuze: Über die Malerei. Vorlesungen März-Juni 1981 , Suhrkamp 2025, S. 344.
Mareike Schwarz, 2025
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